Viktorianische Superhelden
Das victorianische Zeitalter zaubert seit jeher bestimmte Bilder in die Köpfe derer, die davon lesen:Â Sherlock Holmes, Pferdekutschen und Gentlemen mit Zylindern auf der einen und Nebel in London, Jack the Ripper und die düsteren Gassen von Whitechapel auf der anderen Seite. Und jetzt bringe man Superhelden in diesen Mix: Übermenschlich starke Kutscher spielen Bridge mit jungen Mädchen, die einen Mann mit einem einzigen Blinzeln dazu bringen können, für sie zu morden; Queen Victoria steht am Rande der Göttlichkeit und herrscht über das Feenland, intelligente Schimpansen mit Anzug und Stock laufen durch London und selbstbewusste Automaten kämpfen in der Armee.
„The Kerberos Club“ ist ein Quellenbuch für das großartige (und hier bereits besprochene) Rollenspiel „Wild Talents 2nd Edition“. Es bringt Superhelden ins viktorianische Zeitalter. Mit 334 Seiten ist das Softcoverbuch ein ziemlicher Brocken geworden, doch Autor Benjamin Baugh versteht es, mit jeder Seite zu begeistern.
Optisch ist das Buch gelungen. Das Titelbild fängt die Stimmung hervorragend ein, obwohl es wahrscheinlich nicht jedermanns Geschmack ist. Die Innenillustrationen sind so gut, dass ich sie gern in Farbe sehen würde. Schade, dass das Buch nur schwarzweiß ist. Das Seitenlayout ist schlicht, aber schön, nur der Zeilenabstand ist für meinen Geschmack wieder zu groß. Die Seiten wirken zerfasert. Andererseits ist die Lesbarkeit dadurch sehr gut, sodass man das sicher verschmerzen kann.
Der „Kerberos Club“ ist nicht nur der Name des Buches sondern eine zentrale „Figur“ von fast 100 Jahren britischer Geschichte. Es ist ein londoner Club für Menschen und Nichtmenschen, die vom „Seltsamen“ berührt wurden. Intelligente Affen finden genauso Aufnahme wie Gentlemen, Automatenmenschen, Ausländer und sogar – shocking – Frauen. Anwärter werden von Clubmitgliedern ausgewählt und einem Test unterzogen. Wenn sie bestehen, erhalten sie das Angebot, dem Club beizutreten. Allein der Test kann mehrere Abenteuer füllen, wenn erst die Charaktere selbst getestet werden und schließlich selbst eine Prüfung entwerfen oder von anderen Mitgliedern entworfene Prüfungen boykottieren.
Baugh ist es mit dem Club gelungen, die moderne Lebenseinstellung in einem viktorianischen Spiel zu ermöglichen. Im Club sind beispielsweise alle gleich, gesellschaftliche Unterschiede gibt innerhalb des Clubgebäudes nicht. Außerdem wird dort eine gewisse anarchistische Vorgehensweise geduldet, was dem Spielverhalten der meisten Spieler sehr entgegenkommen sollte. Hier ist alles erlaubt und alles möglich: Intrigen, Kämpfe mit den Gegnern Englands oder des Clubs, Duelle, existenzbedrohende Rätsel und kichernde Bösewichte. Der Spielleiter kann auf alte Fehden, Rivalitäten innerhalb des Clubs oder Auftraggeber (im „Namen der Königin“) zurückgreifen, um die Charaktere in Abenteuer zu ziehen. Ja sogar an verschiedene Spielstile wurde gedacht. Britannien macht nämlich während der Regierungszeit Königin Viktorias mehrere Phasen durch: Zunächst ist das „Seltsame“ noch nicht weit verbreitet und der Club kämpft häufig dafür, dass es auch geheim bleibt. In der mittleren Phase tritt es schon deutlicher zutage und der Club muss häufiger gegen Gegner antreten, die offen agieren. In der letzten Phase gibt es keine Grenzen mehr: Kriege mit Feenwesen, Armeen von Robotermenschen und atlantische Kampfpyramiden. Seltsame Ereignisse sind in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts praktisch an der Tagesordnung. Neben den vielen Möglichkeiten spiegeln diese Phasen auch die wahrscheinlichste Entwicklung vieler Kampagnen wider.
Ist der Club erst beschrieben, geht es mit langen Kapiteln über den sozialen Aufbau der britischen Gesellschaft, einer ausführlichen Zeitleiste des 19. Jahrhunderts und einer Beschreibung Londons weiter. Eine unglaubliche Menge an Informationen wird dem Leser auf den ersten 200 Seiten des Buches präsentiert, und alles von Feuerwaffen, Gesellschaftsschichten, typischen Wohnungen bis hin zu Vampirismus wird abgedeckt – viel mehr als ich hier aufzählen könnte. Baugh gelingt es mit vielen Anekdoten und der geschickten Verteilung der Informationen, diese stets interessant zu halten – eine echte Meisterleistung, die mich von der ersten bis zu letzten Seite begeisterte.
Auch Regelerweiterungen kommen nicht zu kurz. Die Charaktererschaffung wird beleuchtet, Feen- und andere Magie, „Conviction“ als Fertigkeit, Kontakte und viele mehr. In dem Kapitel sind auch ein paar hervorragende Spielleitertipps zu finden.
Den Abschluss des Buches bildet eine lange Reihe mit NSC-Beschreibung einschließlich aller Werte. Sie bilden Inspirationshilfe für eigene Figuren und Ansammlung an Freunden und Feinden des Clubs. „Ganz nebenbei“ liefern sie gleichzeitig häufig Abenteuerideen.
Hat mich „Wild Talents“ begeistert, haut mich „The Kerberos Club“ förmlich um. Das Buch ist jederzeit spannend zu lesen und liefert mehr Ideen, als eine einzelne Gruppe je verspielen könnte. Es ist geschickt konstruiert, macht den Hintergrund nicht nur fühl- sondern auch spielbar, geizt nicht mit Tipps und versprüht von der ersten Seite an viktorianischen Charme. Ein tolles Buch und trotz seines hohen Preises jeden Cent wert.
Bei Drivethrurpg.com gibt es übrigens kostenlos einen 28-seitigen „Quick Start Guide“. Und wer die Wild-Talents-Regeln nicht so gern mag, kann das Buch auch als Savage-Worlds-Edition (PDF oder Buch) erwerben.
Titel: The Kerberos Club
Art: Rollenspiel-Kampagnenband
Regeln: Wild Talents 2nd Edition
Sprache: Englich
Verlag: Arc Dream/Cubicle 7
Publikationsjahr: 2009
Autor: Benjamin Baugh
Illustrationen: Todd Shearer, Lanny Liu
Umfang: 334 Seiten
Bindung: Softcover/PDF
Preis: $ 39,99/$ 19,99
Rezensent: Andreas Melhorn
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