Rezension: Shadowrun Almanach der 6. Welt
12 Dez 2010

Der Autor

Wenn ich nicht gerade spiele verunstalte ich Medien. Kommt einem zu Gute bei eigenen Rollenspielen wie Malmsturm oder Projekten wie Ratten!, Savage Worlds Gentlemens Edition, Scion, Sundered Skies und ein paar anderen. An und für sich bin ich der Erzählonkel, daher auch die große liebe zu FATE. Manchmal muss es aber auch ein Burger statt Steak sein und so wird gern und oft auch Savage Worlds oder wenn es klasisch sein soll Pathfinder und Konsorten gespielt. Ich probier gern und oft Systeme aus aber die eigentliche Leidenschaft sind die Hintergrundwelten.

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Shadowrun Quellenbuch

Die Frage nach der Spielwelt von Shadowrun ließ sich früher ohne tiefes Luftholen beantworten: Es ist unsere – ein paar Jahre in der Zukunft, nachdem die Megakonzerne die Macht übernommen haben, Cyberware die Grenzen von Mensch und Maschine verblassen ließ und schließlich die Magie zurück gekehrt ist. Für das Spiel waren diese neuen Dinge natürlich erstmal die spannenderen und so verwundert es auch nicht sonderlich, dass die ersten Editionen ohne einen Atlas ausgekommen sind. Wen interessieren schon ein paar verschobene Ländergrenzen, wenn es den Astralraum oder die Matrix zu erforschen gilt. (Wir sprechen hier von einer Zeit, in der das Internet, in dem du diesen Text gefunden hast, selbst noch Science Fiction war …)

Heute sieht das ein wenig anders aus. Die Welt von Shadowrun ist über die Jahrzehnte mit der Masse an Romanen, Quellenbüchern und Abenteuern gewachsen und auch Otto Normalrunner hat sich inzwischen längst über den Stadtrand von Seattle hinaus getraut. Nach den spotlichtartigen Beschreibungen einzelner Regionen und Settings folgt mit der vierten Edition nun ein Buch, das sich tatsächlich einmal mit der ganzen Welt befasst und ihre gewachsene Vielfalt auslotet:

Der Almanach der Sechsten Welt
Der Almanach besteht aus zwei großen, voneinander unabhängigen, Teilen: Zunächst ein Geschichtsbuch und im Anschluss die Beschreibung von knapp vierzig Staaten- beziehungsweise Staatenbünden. Über das Buch verteilt finden sich außerdem elf (sehr kurze) Kurzgeschichten unterschiedlicher Autoren. Dem Buch liegt schließlich noch eine doppelseitig bedruckte Weltkarte in Din A1 bei.

Der Sinn dieser Verbindung von Historie und geopolitischer Darstellung liegt auf der Hand: Bis zum Jahr 1999 entspricht die Spielwelt unserer eigenen und ohne eine Darstellung der neuen Entwicklungen hingen die Beschreibungen von Ländern in der Luft und würden (im schlechten Sinne) mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Hinzu kommt, dass immerhin schon 22 Jahre des Geschichtsüberblicks keine Vorgeschichte des Systems sind, sondern bereits gespielt wurden. Die Ereignisse einiger älterer Romane und Abenteuer finden sich im jeweiligen Jahresüberblick wieder, wodurch nachvollziehbar wird, warum dieses oder jenes Detail aus dem gerade gelesenen Roman vielleicht schon nicht mehr aktuell ist.

Weil es nicht nur den Almanach, sondern Shadowrun im Allgemeinen betrifft, sei an dieser Stelle nur nebenbei bemerkt, dass keine Retcon existiert: Einige Ereignisse der 0er Jahre mögen den aufmerksamen Leser der Tagespresse darum ebenso überraschen wie die erstaunlich späte Entstehung der „WLAN-Matrix“.

Die letzte allgemeine Frage wäre die nach der Perspektive der Darstellung. Der Versuch, „die Welt“ auf 220 Seiten objektiv und vollständig zu beschreiben, wäre mindestens so vergeblich, wie sein Resultat langweilig wäre. Der Almanach versucht dies aber erfreulicherweise auch gar nicht. Stattdessen stellt er eine In-Game-Quelle dar, die Deckerlegende FastJack aus der „Ætherpedia“ zusammenkopiert hat – inklusive der aus unzähligen Shadowrun-Büchern bekannten Randbemerkungen fiktiver Leser. Spielwerte oder andere Metakommentare gibt es nicht. Die Vor- und Nachteile dieser Vorgehensweise zeigen sich im Blick auf die einzelnen Teile des Buches.

Die Geschichte der Sechsten Welt

Der erste Teil des Buches erzählt die Geschichte der Jahre 1999 bis 2072, wobei ein einzelnes Jahr in etwa eine Seite ausmacht. Neben einem Kasten mit wichtigen Daten in Stichworten (etwa: „8. November 2044: UCAS – Carl Preston wird als Präsident wiedergewählt“.) wird dort eine zeitgenössische Quelle präsentiert und von der online versammelten Leserschaft kommentiert. Die Textsorten sind dabei ausgesprochen vielfältig: Von politische Kommentare zum Zeitgeschehen, persönlichen Tagebucheinträgen und Augenzeugenberichten zu Ereignissen des Jahres, geht es über Flugschreiber-Aufzeichungen bis hin zu einem Songtext von Maria Mercurial (wie in der BRAVO damals mit deutscher Übersetzung).

Die Auswahl der Texte wurde dabei weniger nach ihrer Relevanz für die Weltgeschichte getroffen, als dass sie den jeweiligen Zeitgeist darstellen sollen. Die Geburt der ersten Zwerge und Elfen (im Jahr 2011!) liest sich beispielsweise als nettes Geplauder „betroffener“ Eltern, die ihre Kinder trotzdem sehr lieb haben. In den Leserkommentaren wird sich dann entweder mit den jeweiligen Texten befasst, oder auch die Auswahl selbst kritisiert: „120.000 Menschen sterben in England, Bomben in Seattle, Hubschrauberangriffe in DeeCee und wir hören uns Mecurials miesen Popsong an? Wer stellt diese Dokumente eigentlich zusammen?“, fragt Vulgärmarxist „Aufheben“ im Anschluss an den besagten Songtext.

Auch wenn sich dieser mitgelieferte Einwand zunächst als Ausdruck eines sympathischen Selbstbewusstseins der Autoren liest, hat er leider auch eine gewisse Berechtigung: Spielleiter, die sich von dem Geschichtsbuch ein Hilfsmittel zur schnellen Recherche beim Abenteuerdesign erhoffen, werden mit ziemlicher Sicherheit enttäuscht werden. Als Nachschlagewerk taugt die Quellensammlung nämlich nicht und auch die stichwortartigen Daten müssten wenigstens auf der Suche nach Ländernamen überflogen werden, will man einzelne Entwicklungsstränge nachvollziehen – und selbst dann bleiben viele Zusammenhänge lückenhaft. So finden die Eurokriege beispielsweise recht häufigen Niederschlag in den Datenblöcken, ohne dass sich ihr Ablauf daraus hinreichend schlüssig rekonstruieren ließe.

Diese Überblickshaftigkeit ist allerdings durchaus gewollt und sorgt als konzeptionelle Entscheidung auf der anderen Seite auch für die Vielseitigkeit des Geschichtsüberblicks – trotz eines Schwerpunktes auf Nordamerika vermittelt der Text so nämlich ein recht gutes Gefühl dafür, dass die ganze Welt nach dem Erwachen in Bewegung geblieben ist. Einzelne sehr präsente Großthemen, die sich durch die Geschichte ziehen (Die wachsende Macht der Konzerne und das Erwachen in der Vorgeschichte, gefolgt von den Spielzeit-Ereignissen um den Drachen Dunkelzahn, den Shutdown der Renraku-Arkologie, das Jahr des Kometen und den Crash 2.0), verhindern dabei ein Kippen der Einzelthemen in die Beliebigkeit.

So lässt sich der Geschichtsteil des Buches recht angenehm an einem Stück lesen, wobei die Entsprechung eines Jahres mit einer gedruckten Seite einen greifbaren Eindruck der zeitlichen Abstände bietet. Einige der Veröffentlichungen zu Zeiten der zweiten Edition habe ich beim Lesen des Almanachs tatsächlich zum ersten mal in einen nachvollziehbaren zeitlichen Zusammenhang bringen können!

Um dieses „ein Gefühl für die Welt bekommen“ geht es dem Geschichtsbuch offensichtlich in erster Linie, wobei nochmal darauf hingewiesen sein soll, dass dieses Gefühl durch den Filter eines „bürgerlichen Mediums“ wie der Ætherpedia erzeugt wird und über weite Strecken nicht viel mit der Lebenswirklichkeit abgehalfterter Shadowrunner im Großstadtdschungel zu tun hat. Das ist kein zwingender Widerspruch (zumal auch die in-game Quelle ausdrücklich als etwas dargestellt wird, was ein Shadowrunner wissen sollte, obwohl es nicht unbedingt seine unmittelbare Angelegenheit ist), aber trotzdem ist festzuhalten, dass das Buch die Kontinuität der Spielwelt im Visier hat und nicht so sehr die Atmosphäre am Spieltisch!

Die Länder der Sechsten Welt
Im zweiten Teil des Buches werden 39 Nationen auf dem Stand des Jahres 2072 beschrieben. Neben einem Infokasten mit Basisdaten, einer Abbildung der Flagge und einem Kartenausschnitt gibt es Textblöcke mit einem „geopolitischen Überblick“, einer kurzen Beschreibung ausgewählter großer Städte und einige „bemerkenswerter Orte“. Auch hier wurden die Texte von Lesern kommentiert.

30 Nationen sind auf jeweils einer Doppelseite beschrieben, die übrigen neun haben je vier Seiten zur Verfügung. Im Gegensatz zum ersten Teil des Buches bietet das Layout hier keine fließenden Übergänge zwischen den Kapiteln, sondern jeder Eintrag beginnt mit einer neuen Seite. Dies macht einen angenehm aufgeräumten Eindruck und erspart dem Leser lästiges hin- und herblättern zwischen Stadtbeschreibungen und Karte – zumindest bei den zweiseitigen Kapiteln.

Die Perspektive der Beschreibungen ist mit der des Geschichtsbuchs identisch und zielt eher auf die Allgemeinbildung der Mittelschicht als auf Interessen und Bedürfnisse von Shadowrunnern. Die ergänzenden Leserkommentare ändern daran zwar nichts grundsätzliches, bieten dem Spielleiter aber immerhin einige Ansätze für weitere Überlegungen.

Die Kartenausschnitte geben einen groben Überblick über die aktuellen Grenzen und zeigen die Lage der im Text genannten Städte an – mehr nicht. Es ist manchmal etwas schwierig, dunkelgrüne Küstenverläufe gegen schwarze Meere abzugrenzen. Ausschnitte aus der wesentlich helleren Rückseite der beiliegenden Weltkarte wären übersichtlicher gewesen, während Einträge wie bedeutende Straßen- oder Schienenverbindungen sogar einen echten Mehrwert fürs Spiel dargestellt hätten. Wer in den jeweiligen Ländern spielen will, muss sich darauf einstellen, einen Atlas oder weitere Karten aus dem Internet hinzu zu ziehen.

Überhaupt hat dieser Teil des Buches eher den Anspruch, einen möglichst breiten Überblick über die Welt des Jahres 2072 zu geben, als die beschriebenen Regionen spielfertig zu präsentieren. Die Beschreibungen sind dafür aber eine reichhaltige Ideenfundgrube für Spielleiter, die ihre Konzerne tatsächlich einmal als „global player“ agieren lassen wollen und eignen sich verglichen mit dem ersten Teil außerdem auch als sehr gut als Nachschlagewerk.

Kurzgeschichten
Die elf über das Buch verteilten Kurzgeschichten übersetzen einzelne Ereignisse des Geschichtsbuchs oder Schauplätze des zweiten Teils in kurze Erzählungen. Wie auch in anderen Shadowrun-Publikationen der vierten Edition sind sie in doppelseitige Illustrationen eingebettet, die das jeweilige Geschehen optisch sehr ansehnlich in Szene setzen. Auch wenn die Geschichten durchgehend spannend geschrieben sind und interessante Ideen umsetzen, liegt der Fokus leider überdeutlich auf den handelnden Charakteren – insbesondere die Illustrationen lassen meist nur erahnen, wo die Handlung eigentlich stattfindet. Dabei wäre gerade dies eine wirklich schöne Gelegenheit gewesen, die zuvor eher nüchtern beschriebenen Schauplätze mit Leben zu füllen.
Die letzte Geschichte stellt zudem den einzigen wirklichen Patzer des Buches dar: Der Hintergrund des Textes ist im Druck farblich so intensiv geraten, dass sich die Geschichte kaum lesen lässt.

Formales & Fazit
Das Buch enthält 220 durchgehend farbig illustrierte Seiten, ist im Hardcover gebunden und mit einem Lesebändchen versehen. Abgesehen von der genannten Kurzgeschichte sind Layout und Druck sehr sauber und übersichtlich, wobei die wenigen Veränderungen zur Originalausgabe durchweg positiv auffallen. So sind die neuen Kästen mit den aufgelisteten Daten wesentlich übersichtlicher als der durchgehende Zeitstrahl des Originals, der andere Illustrationen überlagert.

Auch an den sehr ausführlichen Fehlerkorrekturen fällt angenehm auf, dass Pegasus weit mehr geleistet hat, als nur die Texte zu übersetzen. Diese eingearbeiteten Errata und die bereits erwähnte übersichtlichere Variante der Weltkarte sind sehr überzeugende Argumente für die deutsche Fassung des Buches.

Einige der Illustrationen sind bereits in älteren Publikationen aufgetaucht (gelegentlich auch auf dem Titelblatt), was aber nicht unangenehm auffällt, wo beispielsweise das Jahr des Kometen mit dem Cover des gleichnamigen Buches illustriert wird. Abgesehen von diesen Bildern gibt es übrigens keinerlei Verweise auf andere Bücher, was manchmal etwas schade ist: Auch wenn es mit dem authentischen Charakter der Quellen gebrochen hätte, wären Fußnoten wie „Siehe Abenteuer XYZ“ eine hilfreiche Ergänzung gewesen.

Überhaupt stellt sich mir die Frage, ob sich eine Matrixquellensammlung auf Papier überhaupt gut macht. Hier und da sind zwar einige Sätze als Links gekennzeichnet, aber ich würde den nächsten 60 Jahren doch ein gewaltiges Mehr an Hypertextualität zutrauen. Auch die Leserkommentare sind so friedlich (oder streng moderiert), wohl formuliert und freundlich, dass es schwer fällt, sich ihre Verfasser als abgebrühte Straßenkenner vorzustellen. Der inhaltlichen Qualität der Texte tut das keinen Abbruch, aber der Verzicht auf Spielwerte oder die genannten Querverweise sind mit dieser Authentizität recht teuer erkauft.

Insgesamt ist das Buch aber trotz dieser konzeptionellen Schwäche und seinem eher geringen Nutzen am Spieltisch sehr lesenswert und bietet nicht nur Einsteigern viele grundsätzliche Informationen, sondern ist auch für langjährige Spieler interessant, die sich ihrer Spielwelt einmal im größeren Zusammenhang betrachten möchten. Wer mit dieser Erwartungshaltung zum Almanach greift, erhält für 34,95 € ein Buch von hervorragender Qualität, in dem sich ausgiebig schmökern lässt und dessen Ideenreichtum sicher noch Niederschlag in vielen eigenen Abenteuern oder Charakteren finden wird.

Titel: Almanach der Sechsten Welt
Art: Quellenbuch
Regeln: Shadowrun
Sprache: Deutsch
Verlag: Pegasus Press
Publikationsjahr: 2010
Redaktion: Jason Hardy, John Helfers
Deutsche Chefredaktion: Tobias Hamelmann
Autoren: Lars Blumenstein, Rusty Childers, John Dunn, Jennifer Harding, Jason Hardy, John Helfers, David Hill, Ken‘ Horner, Stephen McQuillan, Jason Schmetzer, John Schmidt, Marc Tassin, Malik Tomas, Phaedra Weldon, Michael Witch, Filamena Young
Übersetzer: André Wiesler
Illustrationen: Jonas Anderson, Ryan Barger, Ty Carey, Kristina Carroll, Echo Chernik, Victor Perez Corbella, Ed Cox, Ferrus Duggan, Jacob Glaser, Phil Hiliker, Bjorn Hurri, Peter Johnston, Jason Juta, McClean Kendree, Chris Lewis, Christine MacTernan, Will Nichols, Scott Prescott, Dean Spencer, Florian Stitz, James Wolf, Strehle Christophe Swal, Peter Tikos, Eric Williams, Kieran Yanner & Kunrong Yap
Karten: Alida Saxton
Deutsche Überarbeitung der Karten: Jan Helke
Umfang: 220 Seiten
Bindung: Hardcover + Farbkarte
Preis: 34,95 €
Rezensent: Jan-Paul Koopmann
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