Rezension: Victoriana 2nd Edition Core Rules
23 Okt 2009

Der Autor

Wenn ich nicht gerade spiele verunstalte ich Medien. Kommt einem zu Gute bei eigenen Rollenspielen wie Malmsturm oder Projekten wie Ratten!, Savage Worlds Gentlemens Edition, Scion, Sundered Skies und ein paar anderen. An und für sich bin ich der Erzählonkel, daher auch die große liebe zu FATE. Manchmal muss es aber auch ein Burger statt Steak sein und so wird gern und oft auch Savage Worlds oder wenn es klasisch sein soll Pathfinder und Konsorten gespielt. Ich probier gern und oft Systeme aus aber die eigentliche Leidenschaft sind die Hintergrundwelten.

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Viktorianische Fantasy

Rollenspiele mit historischen Settings haben Vor- und Nachteile. Bist Du der Spielleiter, so ist ab sofort jede Stadtbibliothek Deine Verbündete. Hier findest Du „Quellenmaterial“ in Hülle und Fülle, kannst Biographien Deiner wichtigsten „NSC’s“ lesen und vielleicht auch den einen oder anderen Roman, der sich mit „Deiner“ Epoche beschäftigt.

Andererseits hast Du natürlich auch einen gewaltigen Meta-Plot – nämlich die tatsächliche Historie -, um die Du Deine Plots herumstricken musst. Und es gibt fast immer einen Schlauberger in Deiner Spielergruppe, der Geschichte im Abi hatte – dementsprechend mehr Ahnung als Du – und diese Ahnung dazu verwendet, historische Fehler in Deinen sorgfältig vorbereiteten Plots aufzudecken.

Viele Rollenspiele begegnen dieser Problematik, indem sie zwar Anleihen an der tatsächlichen Historie machen, aber fantastische Elemente und Abweichungen vom tatsächlichen Geschichtsverlauf in ihr Setting einbauen.

Das Victoriana-Rollenspiel, geschrieben von John Tuckey und in seiner 2. Edition in englischer Sprache beim Cubicle 7-Verlag erschienen, geht scheinbar genau so vor. Das Ganze ist im 19. Jahrhundert, genauer gesagt im Jahre 1867 angesiedelt. Europa ist aber neben seiner menschlichen Bevölkerung auch u. a. von Zwergen, Elfen, Gnomen, Halblingen und Ogern besiedelt. Natürlich gibt es Magie. Die Dämonen und ihre Schergen machen den Rechtgläubigen einigen Ärger, dafür ist die Kirche (hier: Aluminat-Church) nie von der Reformation heimgesucht worden.

Klingt interessant. Das Spiel sollte man sich also näher anschauen:

Der erste Eindruck ist nicht schlecht. Der Einband ist im Stile eines alten Folianten mit Metallbeschlag gehalten, auf dem das geschmackvolle Victoriana-Logo prangt. Die Illustrationen sind in schwarzweiß gehalten. Einige alte Fotos und Abdrucke von zeitgenössischen Stichen runden den optischen Eindruck ab. Nicht aufsehenerregend, aber nett.

Nach einer kurzen einstimmenden Story folgt die Einleitung, aus der man schon erkennen kann, dass es sich nicht um ein Indie-Rollenspiel handelt: „Der Spielleiter ist der Verantwortliche für den Plot, muss (als einziger?) alle Regeln kennen, trifft alle Entscheidungen usw. usf.“. Der typisch britische Humor der Autoren kommt zum Ausdruck, wenn auf den Umgang mit weiblichen Mitspielern hingewiesen wird (nicht ungebeten anbaggern, Freunde!).

Dann geht’s in die Vollen:

Das Setting

Im ersten Teil des Buches wird die Spielwelt vorgestellt. Victoriana legt dabei einen Schwerpunkt auf die gesellschaftlichen Klassenunterschiede der damaligen Zeit. Die Undurchlässigkeit des Ständesystems (Adel, Bürgertum und Proletariat) wird eindringlich beschrieben. Und auch das heute kaum noch nachvollziehbare Frauenbild der Epoche wird ausreichend gewürdigt. Wenn man will, kann man Victoriana also zu einer hochpolitischen Spielrunde machen. Ob das eine gute Idee ist, lasse ich mal dahin stehen. Das kommt wohl auf die Zusammensetzung der Leute an, die man an den Spieltisch bringen will. Aber eine originelle Idee ist es immerhin.

Weiterhin findet man in diesem Teil eine nette Auflistung von Dingen, die im Jahre 1867 bereits erfunden waren oder demnächst erfunden werden. Dies ist sicherlich hilfreich, wenn einer der Spieler telefonieren will und man dann weiß, dass das erste Telefon erst ein paar Jahre später erfunden wurde.

Die Aluminat-Kirche spielt in Victoriana eine große Rolle. Sie ist umso mächtiger, als das große Schisma zwischen Protestanten und Katholiken nie stattgefunden hat. Nachdem man lange Jahre einen Kampf gegen die Magiekundigen geführt hat, ist man nun mit der Magiergilde im Einvernehmen und wendet sich mit deren Unterstützung gegen die schwarzen Schafe unter den Zauberkundigen, die Dämonologen und Nekromanten.

Auch die alten Religionen (keltische, römische und nordische Pantheons) sowie fernöstliche Glaubensrichtungen und sogar der Kult der Dämonenlady Paline werden beschrieben.

Eine kurze Beschreibung der einzelnen Länder rundet die Settingbeschreibung ab.

Leider hält sich Victoriana dabei viel zu sehr an die tatsächliche Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Hey, Ihr habt Elfen, Zwerge, Halblinge, Magie, Dämonen! Und trotzdem ist alles haargenau so gelaufen wie in meiner Geschichtsstunde?

Selbst der 30-jährige Krieg hat stattgefunden. Hallo? 30-jähriger Krieg? Ohne Reformation und Gegenreformation? Die Erklärung hierfür gibt der Autor so einfach wie grottenschlecht: Es wurde 30 Jahre lang Krieg gegen den magiekundigen Teil der Bevölkerung geführt.

Nun kann aber bei weitem nicht jeder zweite „Victorianer“ Magie wirken und es gibt auch keine großen magiefreundlichen Länder und Reiche. Wer soll denn da so lange gegen wen gekämpft haben? Die magiekundige Bevölkerung Victorianas auszuräuchern hätte wohl eher 30 Tage als 30 Jahre gedauert.

Die Begründungen für die friedliche Koexistenz der Rassen finde ich ebenfalls mehr als mau: „Die Rassen leben schon so lange zusammen, dass die Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Stand wichtiger ist als die Rassenzugehörigkeit.“ Hört, hört! Victoriana ist eine durch und durch bigotte Welt, in der sich die einzelnen Nationen befehden und bekriegen und die unterschiedlichen Stände einander kaum über den Weg trauen. Aber Fremdrassige sind kein Problem. Das nenne ich mal gelungene Integrationsarbeit unter widrigsten Bedingungen.

Und was noch schlimmer ist: So verkommen Elfen zu Adligen mit langen Ohren, Oger zu geistig limitierten Hilfspolizisten und der Zwerg ist nur ein Schmied an der Ecke, der sich nicht so oft rasiert, wie es eigentlich nötig wäre. Nein danke, dann lieber eine rein menschlich bevölkerte Welt. Etwas mehr eigene Kultur für die Fremdrassen wäre dringend anzuraten gewesen.

Die Regeln

Für die zweite Ausgabe des Victoriana-Rollenspiels wurde eigens das so genannte Heresy-System entwickelt. Warum es so heißt, kann ich nicht sagen. Besonders ketzerisch im Hinblick auf althergebrachte Funktionalitäten ist es jedenfalls nicht.

Nachdem man sich gemäß der Charaktererschaffungsregeln Rasse und Vocation (jau, das Ding hat noch Charakterklassen, wenn auch auf freiwilliger Basis) ausgesucht und zusammengeschraubt hat, kann man dann schauen, wofür die Zahlen auf dem Charakterblatt gut sind.

Im Wesentlichen funktioniert das Spiel so, dass aus Attributen und Fertigkeiten Würfelpools gebildet werden. Man verwendet 6-seitige Würfel und würfelt gegen einen Schwierigkeitsgrad, der die erforderlichen Erfolge festlegt. Jeder W6, mit dem man eine 1 oder 6 gewürfelt hat, ist ein solcher Erfolg. Eine gewürfelte 6 darf zusätzlich noch einmal gewürfelt werden, um einen weiteren Erfolg zu generieren.

Ab einem bestimmten Schwierigkeitsgrad kommen so genannte schwarze Würfel ins Spiel (Black Dice), die bei einer gewürfelten 1 und 6 erzielte Erfolge wieder abziehen (hier wird die 6 nicht weitergewürfelt). Modifikationen laufen entweder über das Verringern des Würfelpools oder durch Hinzufügen von schwarzen Würfeln.

Man kann auch jeweils drei Würfel aus dem Pool entfernen, um dafür einen automatischen Erfolg zu erhalten.

Wer sich jetzt an die Würfelsystematik von White Wolf’s Storyteller-System erinnert fühlt, liegt gar nicht so falsch.

Das Kampfsystem verläuft im Prinzip nach der gleichen Systematik und kommt ganz schmissig rüber, wobei man sagen muss, dass es für den eher taktisch orientierten Tabletop-Fan nur wenig zu bieten hat.

Auch die Anwendung von Magie ändert am Grundgerüst nur wenig. Der Zauberer ist Experte in einer magischen Schule (z. B. Runenmagie, Dunkle Kunst), erhält einen Satz Zaubersprüche (= Fertigkeiten) und los geht’s.

Eine Besonderheit ist das so genannte Medium, dass zwar keine Ausbildung in Gildenmagie genossen hat, aber über para-normale Fähigkeiten verfügt.

Das Heresy-Regelsystem ist einfach, verständlich, übersichtlich und eingängig, hat also alles, was ein Regelsystem haben muss. Wer noch keines hat, kann mit diesem hier nichts falsch machen.

Es ist allerdings keineswegs innovativ. Suchst Du neue Anregungen oder eine neue regeltechnische Herangehensweisen sucht, wirst Du hier nicht auf Deine Kosten kommen.

Die Tipps

Zu guter Letzt wartet Victoriana im dritten Teil des Buches mit einigen Ratschlägen für den Spielleiter auf. Es werden verschiedene Themenbereiche aufgezeigt, die man bespielen kann z. B. als Mitglied einer revolutionären Organisation, als Detektiv a la Holmes und Watson, als ’Gutter Runner’ auf der Jagd nach bösen Dämonen oder als Streiter im Kampf zwischen Chaos und Ordnung (nicht zu verwechseln mit Gut und Böse).

Dazu kommt ein Bausatz für Nichtspielerfiguren, ein paar Szenen, die man in die laufende Kampagne einbinden kann, einige Monster, die es zu bekämpfen gilt, ein kleines Abenteuer, bei dem es um eine schief gelaufene Seance geht, eine Liste mit Literaturvorschlägen, eine andere mit historischen Persönlichkeiten und was man sonst noch so braucht.

Eine gute Sache, besonders (aber nicht nur) für Anfänger.

Fazit:

Victoriana ist sicherlich kein schlechtes Spiel. Aber auch kein Gutes. Letztlich wirkt das Setting gerade wegen der Sachen, die cool hätten sein können, inkonsistent. Es scheint, als hätte der Autor Angst vor der eigenen Courage bekommen oder die Mehrarbeit gescheut, eine etwas mehr fantasygeprägte Weltenhistorie zu entwickeln.

Ich hätte ein Victorian-Fantasy-Setting zu schätzen gewusst. Leider ist Victoriana kein solches Setting geworden. Hier wurde eine Chance verpasst. Schade.

Wer viktorianische Settings sucht, die besser funktionieren, sollte lieber Rippers (Savage Worlds) oder – klassisch – Chtulhu by Gaslight spielen

Titel: Victoriana 2.Ed
Art: Grundregelwerk
Regeln: Heresy-Engine
Sprache: Englisch
Verlag: Cubicle7
Publikationsjahr: 2008
Autor (en): Kristian Bjorkelo, Andrew Peregrine, Scott Rhymer, Ian Sturrock, John Tuckey
Umfang: 384
Bindung: Hardcover
Preis: £34.99
ISBN: 978-0-9555423-2-9

Rezensent: Stefan Frink

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4 Comments
4 Kommentare
  1. Danke für die Rezension. So wie es sich anhört, fällt damit für mich der Hauptgrund, mir Victoriana zuzulegen mit dem unausgegorenen Setting weg.
    Dann doch vielleicht lieber Castle Falkenstein oder Ghosts of Albion.

  2. Ich liebe gut und unterhaltsam geschriebene Rezennsionen. Das ist hier ist mal wieder so eine. Großes Lob.
    Hatte immer mit dem System geliebäugelt und werde es dennoch anschauen, allerdings mit dieser Rezennsion im Hinterkopf.

    Weiter so!

  3. Ich meinte natürlich „Rezension“ =)

  4. Ich habe mir Victoriana 1.Ed angeschaut und war nicht begeistert, nach der Rezension werde ich mir die zweite sparen, danke!
    Eine Lanze brechen möchte ich für die Abenteuerbände von Viktoriana. Ich kann sie ohne großen Aufwand in meine viktorianische Runde importieren (die ohne SC-Magie und Metamenschen auskommt). – Glücklicherweise sind die Abenteuer bei DrivethruRPG als PDF erhältlich.

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